Weißt du noch oder glaubst du schon?
|Wo keine Götter sind, walten Gespenster,
schrieb der frühromantische Dichter Novalis im Jahr 1799 in seinem Fragment Die Christenheit oder Europa. An dieses lesenswerte kleine Pamphlet fühlte ich mich erinnert, als ich neulich den Roman von Michel Houellebecq, Unterwerfung, las1 - weil dem Islam bei Houellebecq ungefähr die Rolle zukommt, die Novalis dem Christentum zuschreibt: als Antwort auf die Profanität, Sinnesleere und Bodenlosigkeit eines sich als aufgeklärt betrachtenden, liberalen Zeitalters, dem nichts über die individuelle Freiheit geht. “Eine Gesellschaft ohne Religion ist nicht überlebensfähig,” sagt Houellebecq in einem Interview.2
Warum aber könne nicht auch das Christentum diese Lösung für die Probleme des Abendlandes darstellen, wurde ich neulich gefragt.
Die Antwort fiel mir schwer. Ich denke, der Grund dafür ist ein ähnlicher wie der für die Tatsache, dass ich, konsequent atheistisch erzogen, mit meinen unbeantworteten Fragen irgendwann beim Buddhismus - und eben nicht, wie es in diesem Kulturkreis nahegelegen hätte, beim Christentum - gelandet bin.
Glauben / Wissen
Vorweg: Jeder gute Lehrer wird dir erst einmal sagen, dass du deine spirituelle Praxis am besten nicht im Fernen, Exotischen beginnst, sondern bei dir, in deiner Kultur. Ein Zen-Lehrer wird dich nicht gleich zur nächsten Kirche schicken - aber zumindest keinen Hehl daraus machen, dass das auf gewisse Weise der einfachere Weg sein könnte.
Dennoch macht es mir das Christentum mit seinem Glauben an den einen Gott schwer, mich mit meinen Fragen an die Kirche zu wenden.
Wie Novalis in oben genanntem Fragment etwas idealisiert beschreibt, hat sich das Christentum spätestens seit der Reformation selbst Steine in den Weg gelegt, als der Glaube an das Wort die in der katholischen Kirche noch heimischen Rituale der Erfahrung in den Hintergrund drängte. Die Richtung war eingeschlagen, die letztendlich zur Aufklärung und zur Vernunft als größtem Gegenspieler des Glaubens führte. Leer ist der Himmel, bodenlos unsere Existenz - keine Götter, nirgends?
Der falsche Dualismus zwischen Glauben und Wissen ist es, der uns stolpern lässt. Der verkennt, dass Glauben auf einer ganz anderen Ebene stattfindet als Wissen, oder anders: dass der Glaube aus einer ganz anderen Perspektive auf die Wirklichkeit schaut als das Wissen.3
Das Christentum aber beharrte lange Zeit (und beharrt vielleicht immer noch) auf einer Erzählung, die man glauben soll, auf der Wahrheit der Schrift - die aber meinem ach so geschätzten Verstand erst einmal konträr entgegenzustehen scheint. Es ist, als stünde ich vor einem Abgrund, und auf der anderen Seite winkt die Erlösung. “Du musst nur springen”, ruft sie, “dir passiert nichts!” Die Frage ist, ob ich ihr das glaube, während mein Verstand brüllt: “Spring nicht! Du weißt, du kannst nicht fliegen!”
Nein, kein Zweifel: Ich war viele Jahre lang nicht bereit, diesen Glauben, dieses Vertrauen aufzubringen, weil mir mein Kopf doch viel deutlicher zu sagen wusste, wo es lang geht. Es brauchte eine Weile, bis ich merkte, dass es sich dabei auch um nichts anderes als um einen Glauben handelte - allerdings einen, der mich auf merkwürdig verlorenem Posten, zunehmend ohne Sinn, mit ungewissem Halt, zurückließ. Wo keine Götter sind, walten Gespenster.
Nicht-Wissen / Nicht-Glauben
Der Buddhismus, zumindest in seiner Ausprägung als Chan- und Zen-Buddhismus, lässt diese Gegensätze einfach links liegen. Alles, was es braucht, ist eine gewisse Müdigkeit ob all der Gespenster, die über die Nacht hinaus auch noch die Tage bevölkern. Für viele Zen-Übende ist der Impuls derselbe: die Sehnsucht nach ein wenig Ruhe, Klarheit, Achtsamkeit. Man beginnt mit einer Praxis, die ohne jedwede Transzendenz auskommt. Zazen ist Übung im Hiersein pur: Es gibt nichts anderes als genau dies.
Zazen ist reine Erfahrung, jenseits des Denkens und vor allen Konzepten, ist reines Tun. Es geht darum, anzukommen im eigenen Körper - und es dann auch noch mit diesem Körper in einem Raum auszuhalten. Das ist alles ganz konkret und kommt ohne ein Fünkchen von dem aus, was man als Grundessenz jeder Religion betrachtet: dem Glauben. Mancher sagt, Zen habe mit Spiritualität und Religion im Kern gar nichts zu tun.
Allerdings öffnet Zen eine unscheinbare Hintertür. Mit der Zeit wächst der Eindruck, dass wir alle, schon immer, am Glauben sind. Permanent glauben wir an die Welt, die unser Geist uns als real verkauft - wir glauben, dass unsere Sichtweise, unsere Interpretation (immerhin auf Wissen basierend!) die Wirklichkeit selbst ist. Es ist die vielleicht einzige große Lehre des Zen, zu erfahren, dass das, was wir “Wirklichkeit” nennen, nur eine Version eines unnennbar Großen ist - und dass allein wir es sind, die sich für die eine und gegen die andere Version entscheiden, die sich entscheiden, welchem Blick auf die Welt wir Glauben schenken. Moment für Moment.
Mit dieser Einsicht bin ich schon mitten im Sprung oder gar jenseits des oben beschriebenen Abgrunds. Die Frage, ob ich fliegen kann oder nicht, erweist sich nicht als relevant. Wenn ich zum Glauben “verurteilt” bin, wenn alles Wissen, das in meinem Kopf herumspukt, nichts ist ohne einen Grund, auf dem es steht, dann kann ich mich bewusst entscheiden zu glauben. Ein Glaube, der sich an das halten will, was ist, stiftet Vertrauen, gibt Halt und macht vieles einfacher. Es waren nur Gepenster…
I-don’t-know Zazen
So verjagt die stille Übung im Zen die Gespenster und stiftet, ganz leise, einen Glauben. Es gibt keinen Gott, aber er ist immer bei mir.4 Das Zen kennt keine Lehre, an die ich glauben kann - nur das Bewusstsein einer Leere, von der ich nichts weiß. Shunryu Suzuki spricht vom I-don’t-know zazen:
We don’t know what zazen is anymore. I don’t know who I am. To find complete composure when you don’t know who you are or where you are, that is to accept things as it is. Even though you don’t know who you are, you accept yourself. That is “you” in its true sense. When you know who you are, that “you” will not be the real you. You may overestimate yourself quite easily, but when you say, “Oh, I don’t know”, then you are you, und you know yourself completely. That is enlightenment.
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Warum und wie genau, das habe ich hier beschrieben: Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch / www.mariokeipert.de ↩
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ZEIT online vom 23.01.2015: http://www.zeit.de/2015/04/michel-houellebecq-unterwerfung-charlie-hebdo-frankreich-radikalisierung/komplettansicht ↩
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Dazu empfehlenswert sind die Dogen-Interpretationen von Gudo Wafu Nishijima und Shōhaku Okumura (siehe Literaturempfehlungen ↩