Wer bin ich?
|Es gab eine Zeit, da fiel mir die Antwort auf diese Frage leicht: Wer ich bin? Regisseur, Student, Ideenfabrikant, Autor, Webdesigner … Dann begann ich, Zazen zu praktizieren, und seitdem ist nichts mehr, wie es vorher war.
Nein. Ganz so einfach ist es nicht. Tatsächlich begann ich - wie viele andere wahrscheinlich auch - mit der Zen-Praxis, als meine Lebensentwürfe mehr Fragen aufwarfen als sie Antworten lieferten; als ich mir an ewig gleichen Problemen den Kopf blutig schrammte, ohne einer Idee von möglichen Lösungen auch nur näherzukommen. Es dauerte gar nicht so lange, bis ich immer öfter im Alltag realisierte: Meine Probleme stammen nicht selten daher, dass ich mich zu stark an Konzepte und Ideen klammere, wer ich bin, was ich sein möchte und was ich (oder andere) von mir erwarte.
Einer der Kernsätze des Zen heißt:
Es gibt kein Selbst.
Doch was heißt das? Dass ich gar nicht existiere, dass mein Selbst nur eine Fiktion ist, zur fixen Idee geronnen durch angenommene Muster, angehäufte Gedanken und antrainiertes Verhalten? Sitze ich auf dem Kissen, um mein Leben wie einen Film an mir vorbeiziehen zu sehen und es danach hinter mir zu lassen wie die Leinwand im Kinosaal?
Einfache Antworten, Antworten überhaupt, sind im Zen nicht zu erwarten. Jede vermeintliche Sicherheit - wie die des Nicht-Selbst - wird gleichzeitig ad absurdum geführt: Natürlich gibt es ein Selbst, es ist nur nicht das, was du dafür hältst.
Und so besteht die Übung auf dem Kissen im Grunde darin, immer wieder nachzuforschen: Wer ist es, der atmet? Wer ist es, der ich sagt? Wer ist es, der beim morgendlichen Zazen schon an die Arbeit denkt? Und natürlich auch: Wer ist es dann, der arbeitet?
Es gibt nur dies.
Von hier an werden die Dinge kompliziert. Ich denke, also bin ich. Bin ich wer? Bin ich das, was ich denke? Bin ich das, was ich von mir denke? Denke ich während des Atmens, dass ich jetzt atme? Oder geht der Atem nicht von einem ganz anderen, tieferen Impuls aus? Steckt da in meinem Körper noch ein Ich, irgendwo im Bauch, das da scheinbar autonom vor sich hin atmet? Und wo kommt das eigentlich her?
Am Ende des Tunnels wartet kein Licht, sondern die richtig große Frage: Wozu bin ich - wer auch immer das ist - eigentlich hier? Konfus? Ja. Aber dann auch wieder ganz einfach.
Denn im Laufe der Zeit merke ich, wie meine Konzepte von mir wie Schalen von mir abfallen. Meine Ideen, wer ich bin, was ich tun muss, was mich ausmacht. All das verschwindet nicht im Nirwana, es bleibt existent - aber in mir erwacht ein Gespür dafür, was Gedanke und Idee ist und was, jetzt!, wirklich. Letzteres ist im Unterschied zu den all den großen Labels und Begriffen meist ziemlich konkret und oft erschreckend klein.
Es gibt nur dies. Dieser Satz ist mir über die Jahre wichtiger geworden als die Rede vom Nicht-Selbst. Denn dahinter verbirgt sich eine ganz konkrete Handlungsanweisung: Hier und jetzt habe ich die Gelegenheit, herauszufinden, wer ich bin - und dies gleichzeitig voll und ganz zu sein. Der springende Punkt: dieses Ich hat dann oft ganz wenig mit den von mir Gedachten oder Gewünschten zu tun und sehr viel mit den Menschen und dem Leben um mich herum.
Großes Reinemachen
Mittlerweile weiß ich kaum so richtig zu sagen, wer ich eigentlich bin. Ich merke nur, dass viele der Zuschreibungen, die andere oder ich selber (oft genug in der Vorwegnahme von möglichen Erwartungen anderer an mich) in der Vergangenheit oft gemacht haben, mir merkwürdig fremd und unzutreffend geworden sind. Ich bin, was ich tue, oft genug ohne Plan. Und dann häufen sie sich doch wieder an: die Erwartungen und Ideale, die Angst, die Pläne, der Druck.
In seinem neuesten Buch Don’t be a Jerk beschreibt Brad Warner das japanische Ritual des Osoji:
Osoji literally translates as something like “big cleaning”. … In Japan, during osoji time, you take everything out of the house. And I do mean everything! The books, the knickknacks, the dishes, the bookshelves, the furniture - everything that’s not nailed down gets taken outside. … Then you clean up the house thoroughly, after which you clean up all the stuff you took out, and then you start putting it back inside. … When you’re putting stuff back in, you get to see how much useless junk you’ve accumulated since the last osoji and you always end up throwing a lot away.1
Dieses große Reinemachen scheint mir eine treffende Beschreibung der Zen-Praxis - und gleichzeitig auch eine nicht allzu schlechte Idee für den eigenen Haushalt. Denn viele meiner Ideen und Konzepte von mir selbst spiegeln sich im Ansammeln von Dingen, die man mit sich herumschleppt, jahrein, jahraus. Würde ich ab und zu mein gesamtes Hab und Gut - geistig wie materiell - auf die Straße stellen, ich verfiele nicht so schnell der Versuchung, mich an Antworten zu heften, wer ich bin. Und manchmal ist eine Frage der bessere Wegweiser.
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Brad Warner: Don’t be a jerk. And Other Practical Advice from Dogen, Japan’s Greatest Zen Master. New World Library 2016, S. 45. ↩