Sag ja!
|Was hat ein Schneemann mit so ziemlich allen anderen Wesen gemeinsam? Er ist vergänglich. Anders aber z.B. als wir Menschen steht er einfach und aufrecht inmitten dieser Vergänglichkeit: seiner Wirklichkeit. Schmilzt er, so schmilzt er ganz und gar, vollkommen und ohne Vorbehalt. Der Schneemann ist nichts als ein einziges großes, wenngleich unbewusstes, “Ja”.
Unbeständigkeit
Mit was kann ich dieses Leben vergleichen?
Mit Mondlicht, reflektiert in Tautropfen
am Schnabel eines Kranichs1
Warum fällt es so schwer, unsere Vergänglichkeit und Unbeständigkeit anzunehmen? Weil wir - anders als der Schneemann - von Kindheit an die Welt als Objekt sehen, dessen Mittelpunkt wir - das Subjekt - sind. Ich sehe, ich denke, ich handle. Unsere Weltordnung ist undenkbar ohne das Ich, das als Mittelpunkt allen Geschehens das Einzige zu sein scheint, auf das Verlass ist.
Wir wissen, irgendwo in uns drin, dass dieser Glaube eine Täuschung ist. In manch einem Moment ist es geradezu körperlich spürbar: Ich bin Teil der Welt, die mich nicht nur umgibt sondern durchdringt - die ich bin. Es gibt keine Trennung, keinen Gegensatz, kein Innen und kein Außen. Ich und die Welt: wir entstehen zusammen, Moment für Moment. In diesem Zusammenspiel entsteht Wirklichkeit - und was entsteht, vergeht im selben Moment.
The secret to say “Yes!”
Inmitten der Wirklichkeit zu stehen und diese Wirklichkeit nicht mit unseren Ideen - was wirklich ist, was sein sollte, wer ich bin - zu verwechseln: das übt man im Zen. In einem Vortrag beschreibt Shunryu Suzuki diese Übung in einfachstem Englisch an einem sehr lebensnahen Beispiel - und widerlegt mit seinem Plädoyer für das Ja-Sagen ganz nebenbei den Nihilismusverdacht, unter den der Zen-Buddhismus immer mal wieder gestellt wurde:
Forget this moment and grow into the next. That is the only way. For instance, when breakfast is ready, my wife hits some wooden clappers. If I don’t answer, she may continue to hit them until I feel rather angry. This problem is quite simple - it is because I don’t answer. If I say “Hai!” [“Yes!”], there is no problem. Because I don’t say “Yes!” she continues to call me because she doesn’t know wether or not I heard her. (…)
So the secret is just to say “Yes!” and jump off from here. Then there is no problem. It means to be yourself in the present moment, always yourself, without sticking to an old self. You forget all about yourself and are refreshed. You are a new self, and before that self becomes an old self, you say “Yes!” and you walk to the kitchen for breakfast.2
In der Wirklichkeit: Geben und Empfangen
Suzuki nimmt Bezug auf ein Koan, das u.a. im Mumonkan behandelt wird - das Koan über das Vorwärtsgehen von der Spitze einer Stange:
Meister Sekisõ sagte: “Wie willst du von der Spitze einer hundert Fuß hohen Stange vorwärtsgehen?” Ein anderer berühmter Altmeister sagte: “Auch wenn einer sitzend auf einem hundert Fuß hohen Mast Erleuchtung erfahren hat, ist es noch nicht die vollständige Sache. Er muss von der Spitze des Mastes vorwärtsgehen und seinen ganzen Körper in den zehn Richtungen des Weltalls deutlich zeigen.”3
Man kann das auf die Frage der Erleuchtung beziehen: Du musst nicht nur weit hinauf, um erleuchtet zu werden - du musst darüber hinaus gehen, musst die Erleuchtung hinter dir lassen. In der Hohen Luft weit über dem “gewöhnlichen” Leben, im Elfenbeinturm oder in der abgeschiedenen Höhle magst du erleuchtet werden oder vermeintliche Antworten auf deine Fragen finden, doch darum geht es nicht.
Es geht einzig darum, in der Wirklichkeit zu stehen. Voll und ganz. Ohne Vorbehalt. Mittendrin.
Jeder von uns, erleuchtet oder nicht, klettert gern auf hohe Berge oder klammert sich an diverse Stangen, Steine, Wegweiser. Gerade das “Ich”, mit seinen Antworten, seinen Gewohnheiten und seinen Vorstellungen, fesselt uns immer wieder von Neuem, verführt uns nach allen Regeln der Kunst.
Es ist ganz und gar nicht einfach, auf diese Weise “ja” zu sagen. Die eigenen Vorstellungen und Illusionen fallen zu lassen, vom (hohen) Mast herunterzusteigen und einfach so, offen, nicht wissend, wehrlos, in der Wirklichkeit zu landen. Doch genau hier finden Welt und “Ich” zusammen: in einem Akt aus Hingabe und Großzügigkeit.
Im Geben empfange ich mich selbst und verwirkliche meine ureigensten Möglichkeiten: ich komme zur Welt. Vielleicht handelt es sich dabei nur um den Gang zum Frühstückstisch. Möglicherweise aber bin ich - ähnlich wie der Schneemann - nur dazu auf der Welt: um Moment für Moment zu sein, ganz und gar, bedenken- und vorbehaltslos. Ein einziges, großes “Ja”. Bis ich nicht mehr bin.
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Gedicht von Meister Dõgen, übersetzt nach der englischen Übertragung: to what shall I liken this life? / moonlight, reflected in dewdrops / shaken from a crane’s bill ↩
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Shunryu Suzuki: Jumping of the 100-Foot Pole. In: Not always so. Practicing the True Spirit of Zen. HarperOne 2009. Seite 18f. Siehe hier: https://www.texte-zum-zen.de/buecher/zeitgenoessisch/shunryu-suzuki-not-always-so ↩
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Mumonkan. Die torlose Schranke. Zen-Meister Mumons Koan-Sammlung. Kommentiert von Yamada Kôun Roshi. Kösel 2011. Fall 46: Vorwärtsgehen von der Spitze einer Stange. S. 283ff. ↩